Kein frühes Happy End für Ungermann
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Kein frühes Happy End für Ungermann

Literatur
Veröffentlicht am 20.12.2023
Susanne Leuenberger
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Autor Mirko Beetschen schickt einen Berner Architekturjournalisten für eine Schauernacht in eine verwunschene Villa. «Das Haus der Architektin» spielt auf einer fiktiven Toteninsel im Neuenburgersee und entwirft auch sonst erfrischend andere Topografien.

Mag Hunde: Autor Mirko Beetschen. ©Martin Guggisberg
Mag Hunde: Autor Mirko Beetschen. ©Martin Guggisberg

Es muss traumatisch gewesen sein. Nichts mehr im Leben des einst erfolgreichen Berner Architekturjournalisten Michael T. Ungermann ist so wie zuvor. Auf Anraten seiner Psychologin, aber auch um die Öffentlichkeit zu warnen, verfasst der Publizist ein Protokoll der Geschehnisse der Nacht vom 14. auf den 15. März 2018 auf einer Moorinsel im Neuenburgersee.

Hier, das ist seinem Bericht zu entnehmen, besucht er im Auftrag eines Neffen die Villa «Les Espoirs», das einstige Anwesen der längst verstorbenen Architektin Marie-Yolande Rabaut. 

Ungermann soll die modernistische «follie», «ein Experiment in Beton, Stahl und Glas, das sich die wilde Insellandschaft geradezu einverleibt hat», als erster Reporter überhaupt zu Gesicht bekommen. Das klingt erst mal reizvoll. 

Am Ende zwei Tote

Doch der Berner Schriftsteller Mirko Beetschen schickt seinen Ich-Erzähler Ungermann in «Das Haus der Architektin» auf eine veritable Toteninsel, um die sich zahlreiche Gerüchte ranken: Die Erbauerin Rabaut, eine fiktive Zeitgenossin Le Corbusiers, verbittert über den ausbleibenden Beifall der Architekturwelt, baute sich in den 1950er-Jahren fernab der Zivilisation ihr eigenes Refugium. 

«Les Désespoirs» nennen es die Einheimischen, denn drei Tote forderte der Bau alleine. Ein Baumeister stürzte in den ungesicherten Luftschacht, ein Schreinermeister ertrank im See und ein Lehrling wurde von einer Schlammlawine erfasst. Und das ist nur der Anfang einer Serie seltsamer Todesfälle.

Zwei Tote wird es auch am Ende von Ungermanns nebelverhangener Inselreise geben. Einer davon ist ausgerechnet sein Fährmann ins Reich der Marie-Yolande Rabaut. Der adoleszente Bootsführer Vincent mit dem wehenden dunklen Haar kommt, unterwegs zur vereinbarten Rückfahrt, auf so erschreckende wie gewaltsame Weise um. 

«Ich glaube, es war in diesem Moment, dass ich, wenn noch nicht über, so doch gefährlich nahe an den Rand des Wahnsinns glitt.»
— Ungermann in «Das Haus der Architektin»

Er zwickt sich am Handgelenk

Und Ungermann selbst versinkt währenddessen mit einem Bein an einer unglückseligen Stelle im Moor – und wankt fortan mit stechendem Schmerz zwischen Traum und Wachzustand durch eine schauerliche Topografie im und ums Haus. Perspektiven geraten dabei in Unordnung, eine Leiche verschwindet, Treppen laufen ins Leere oder führen in nirgends in Plänen festgehaltene Räume, Lichter flackern auf rätselhafte Weise auf – und ein Lift setzt sich scheinbar spontan in Bewegung. 

Ungermanns schlafwandelndes Ich zwickt sich mehr als einmal am eigenen Handgelenk. Und eine unheimliche, nach Verwesung riechende Erscheinung schreit es ihm im Traum ins Ohr: «Quittez!»   Aber gerade das geht natürlich nicht. «Ich glaube, es war in diesem Moment, dass etwas in mir riss, dass ich, wenn noch nicht über, so doch gefährlich nahe an den Rand des Wahnsinns glitt.» Etwa so lässt sich Ungermanns Gefühlslage, diesem Unort ausgeliefert, zusammenfassen. Auch die beiden Hunde an seiner Seite, Boxerdame Bonnie und Pitbull Cerby kommen aus dem Wittern und Schlottern nicht raus. Und plötzlich verschwindet Rüde Cerberus im ­Nebel.

Marzili oder Neuenburgersee 

Die Rettung kommt mit dem Morgen. Aber ein Happy End gibts doch nicht so recht. Vergnüglich ist die Lektüre von Beetschens Roman aber durchaus. In der Manier von Edgar Allen Poe oder Arthur Conan Doyle lässt er seinen Ich-Erzähler aus dem Rückblick Gruseliges erzählen, und auch sonst zitiert Beetschen vertraute Elemente und Motive der angelsächsischen Schauerliteratur, die er in die Topo­grafie und die architektonische Landschaft der Westschweiz versetzt: Da gibts viel Nebel, tiefe Moore, Somnambulie, ein modernistisches Haus voller Spuk, grosse Hunde, einen unglückseligen Charon und eine Böcklinsche Toteninsel.         Eher erquickliche städteplanerische Verfremdungen verpasst Beetschen, der übrigens wie sein Protagonist selbst Architekturkenner ist, der Stadt Bern. Diese erhalten zu Beginn des Romans einen Gastauftritt. Geneigte Leser*innen werden daran Spass haben. Ein gutes Buch fürs Marzili. Oder für den Strand des Neuenburgersees.

Und so sieht Bern 2018 in «Das Haus der Architektin» aus:

Bern, U-Bahn-Metropole:  «Ich mochte Berns Untergrundbahn, die ‹Orange›, wie man sie in typisch lokaler Manier bereits kurz nach der Einweihung 1966 in Anspielung auf die Farbe der ersten Züge nannte.» Dabei wäre die Metro aufgrund von Einsprachen beinahe nicht gebaut worden. Bei den weiteren Ausbauschritten der Hauptachsen Mühleberg – Worb und Flughafen Bern Nord – Belp setzte man auf die Handschrift von Architekturgrössen wie Mario Botta, Santiago Calatrava und jüngst dem niederländischen Büro MVRDV. Stationen der stark frequentierten Linie West – Ost sind «Holligen West», «Insel», «City West», die der Linie Nord-Süd beispielsweise «Alt-Marzili» oder «Brunnadern». 

Bern, Downtown Switzerland:  «Mit dem Auto fuhren wir über die Monbijoubrücke, deren Mittelstreifen längst aufgelöst und in den erhöhten «Floating Park» umgewandelt worden waren. (Bern pflegte seit einigen Jahren eine Vorliebe für international klingende Namen und hatte sich in einer vieldiskutierten Marketingstrategie um die Jahrtausendwende sogar selbst zu «Downtown Switzerland» erklärt)». Ein Hieb gegen die anglophil-zentralistische Vermarktung von Zürich. Auf dem Gaswerkareal stehen übrigens jetzt Penthouse-Apartments mit Dachgärten und ausladenden Terrassen. 

Bern, autofrei:  Ein Stadttunnel führt nach der Monbijoubrücke in den Untergrund und kommt erst im Von-Roll wieder an die Erdoberfläche. Er sorgt für eine weitgehend unterirdische Verkehrsführung in Berns Innenstadt. Unweit vom Von-Roll, zwischen Autobahneinfahrt und Bremgartenwald, ungefähr dort, wo heute das Zaffaraya steht, befindet sich übrigens ‹Robin’s Wood›, eine aus einheimischem Holz gebaute, energieautarke Genossenschaftssiedlung, erbaut vom renommierten Bieler Architektenbüro :mlzd. 
 Michael T. Ungermann und sein Lebenspartner James überlegten, sich in die Genossenschaft einzukaufen und mit ihren Hunden Bonnie und Cerby ein Appartement über den Baumkronen zu beziehen. Leider wohnen hier viele Familien und die Siedlung ist autofrei, für Ungermann beides ein NoGo.

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Susanne Leuenberger
Susanne Leuenberger
Redaktionsleiterin

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